Ist euch schon einmal aufgefallen, dass der Held zu Beginn einer Geschichte völlig überfordert mit dem Gegenspieler ist? Er hat ganz offensichtlich keine Chance gegen seinen Widersacher und als Leser/Zuseher fragt man sich, wie der Held hier bitteschön als Sieger hervorgehen kann. Da gibt es den kleinen Hobbit, der plötzlich einem dunklen Herrscher die Stirn bieten soll. Oder den jungen Harry Potter, der sich einem erfahrenen und mächtigen Zauberer stellt.
Der Gegenspieler hat in den meisten Geschichten von Anfang an klar die Oberhand, aber warum ist das eigentlich so?
Keine Herausforderung. Keine Story
Bei der Charakterisierung von Figuren und beim Plotten lautet eine der wichtigsten Regeln, dass der Held dem Gegenspieler zunächst einmal unterlegen sein sollte. Die Begründung hierfür ist ganz simpel: Könnte der Gegenspieler mit einem Fingerschnippen besiegt werden, wäre es viel zu einfach und es würde überhaupt keine Story in Gang kommen. Die Geschichte wäre zu Ende, noch bevor sie richtig begonnen hat. Keine Herausforderung, keine Weiterentwicklung des Helden, keine Story.
Darum ist es so wichtig, dass der Held am Anfang der Geschichte kaum oder gar keine Chance gegen den Gegenspieler hat. Der Held muss zuerst einige Hindernisse überwinden, bevor er dem Gegenspieler das Wasser reichen kann. Oftmals muss der Protagonist zuerst seine Fähigkeiten verbessern, die Handlager des Gegenspielers überwinden oder ein Rätsel lösen.
Das Ungleichgewicht
Zwischen Protagonist und Antagonist herrscht also zu Beginn ein Ungleichgewicht. Der Antagonist ist dem Held überlegen, indem er stärker oder schlauer ist, über die bessere Technik, mehr Geld, Macht oder Unterstützer verfügt. Die Möglichkeiten sind hier endlos.
Dieses Ungleichgewicht sollte für die Geschichte relevant sein. Angenommen, die Rettung der Menschheit wird durch ein Schachspiel entschieden. Der Antagonist ist milliardenschwer, hat von Schach aber nicht die leiseste Ahnung. Der Held ist hingegen Sozialhilfeempfänger, aber dafür amtierender Schachweltmeister. In diesem Fall stellt es für den Held keine größere Schwierigkeit dar, den Gegenspieler zu besiegen, egal wie groß der Unterschied zwischen ihrem monatlichen Einkommen ist.
Oder anders formuliert: Dem Protagonist fehlt eine bestimmte Eigenschaft/Fähigkeit/Ressource, um den Gegenspieler aufzuhalten. Gleichzeitig verfügt der Antagonist über eine bestimmte Eigenschaft/Fähigkeit/Ressource, durch die er eindeutig in der besseren Position ist.
Neben der entscheidenden Schwäche des Helden, die dem Gegenspieler einen Vorteil verschafft, verfügt der Held über eine besondere Eigenschaft/Fähigkeit/Ressource, mit der er den Gegenspieler am Ende besiegt. Der Held muss sich dessen nicht unbedingt bewusst sein oder er kennt seine Stärke, weiß aber nicht, wie er diese richtig gegen den Antagonisten einsetzen soll.
Am besten lässt sich also ein Ungleichgewicht herstellen, indem die Schwäche des Helden die Stärke des Gegenspielers ist.
Wir können somit folgendes über das Kräfteverhältnis zwischen Held und Gegenspieler festhalten:
- Der Gegenspieler hat zunächst die Oberhand, er wirkt übermächtig und unbesiegbar.
- Der Held muss zuerst kleinere Herausforderungen bestehen, um dem Gegenspieler später ebenbürtig zu sein.
- Der Held verfügt über eine Stärke, durch die er den Gegenspieler am Ende besiegt.
In den folgenden Beispielen werde ich mich auf die Disney-Filme “Hercules” (1997) und “Aladdin” (1992) beziehen. Wer die Filme noch nicht gesehen hat, sollte hier nicht weiterlesen, da Spoiler-Gefahr.
Hercules – Hades
Zuerst ein paar Worte zur Story: Der Film ist angelehnt an die griechische Sage von Hercules, dem Sohn von Zeus. Hades, der Gott der Unterwelt, will den Olymp erobern. Aufgrund einer Prophezeiung weiß er jedoch, dass Hercules seine Eroberungspläne vereiteln wird. Also will er Hercules noch als Kind töten. Hades' Schergen Pech und Schwefel entführen daraufhin das Baby und verabreichen ihm einen Trank, der ihm seine Unsterblichkeit nimmt. Doch es geht etwas schief und Hercules trinkt die Flasche nicht vollständig aus. Dadurch wird er zwar sterblich, behält aber seine Götterkraft. Mit Achtzehn erfährt Hercules, wer er wirklich ist. Um wieder in den Olymp aufgenommen zu werden, muss er sich allerdings als wahrer Held erweisen. Dadurch gerät er wieder auf Hades' Radar, der nun alles daran setzt, Hercules noch zu töten.
Kommen wir nun zum Ungleichgewicht zwischen Hercules und Hades:
Hercules: Seine Stärke ist eindeutig seine körperliche Kraft. Er ist ein Beschützertyp, der stark, sensibel und gutmütig ist. Hercules gehört nicht gerade zu jenen Figuren, die lange über ihr Handeln nachdenken, er stürzt sich kopflos in eine Situation und vertraut dabei einfach auf seine Kraft. Unvergessen ist die Szene, in der Hercules gegen den Flusswächter kämpft und sein Trainer Phil ihm zuruft, er solle seinen Kopf benutzen. Hercules nimmt diese Anweisung etwas zu wörtlich und rammt den Flusswächter mit dem Kopf voran beiseite.
Hades: Der Gott der Unterwelt ist ein Stratege, der langfristig plant. Hades tritt in dem Film als Geschäftsmann auf, der Deals aushandelt und andere dabei über den Tisch zieht. Ihm stehen alle Mittel der Unterwelt zur Verfügung und er hat die Kontrolle über sämtliche Monster, die er gegen Hercules in den Kampf schickt.
Solange es nur um das reine Kräftemessen geht, ist Hercules klar im Vorteil. Es besiegt alle Monster, die ihm Hades entgegenschickt, mit Leichtigkeit. Hades stellt an diesem Punkt keine wirkliche Gefahr dar. Dem Gott der Unterwelt läuft jedoch die Zeit davon: Er plant seit 18 Jahren, Zeus vom Thron des Olymps zu stürzen, was ihm mithilfe der Titanen gelingen soll. Doch Hercules steht ihm im Weg, da Hades weiß, dass dieser ihn besiegen wird.
Was tut Hades also? Er macht sich seine strategische Denkweise und sein Verhandlungsgeschick zunutze und stellt Hercules vor ein Ultimatum: Hercules soll für 24 Stunden auf seine Kraft verzichten. Im Gegenzug lässt Hades Meg frei. Sie ist der Love Interest der Geschichte. Hercules lässt sich auf den Handel ein, unter der Bedingung, dass Meg nichts passiert. Als Geschäftsmann stimmt Hades dieser Bedingung zu, sollte Meg dennoch etwas zustoßen, erhält Hercules seine Kraft wieder. Die beiden besiegeln den Deal mit einem Handschlag. Hercules verliert seine Kraft und Hades gewinnt somit die Oberhand. Hades zieht mit den Titanen Richtung Olymp und beauftragt einen Zyklopen, sich um Hercules zu kümmern.
Nun ist das Ungleichgewicht zwischen Held und Gegenspieler hergestellt. Hades und die Titanen werden zur scheinbar unüberwindbaren Hürde.
Wie wird Hades am Ende besiegt? Zunächst einmal muss Hercules einen Handlanger besiegen, nämlich den Zyklopen. Dies gelingt Hercules, indem er dem Zyklopen eine Fackel ins Auge wirft, seine Beine fesselt und der Zyklop so über eine Klippe fällt. Hercules beweist damit, dass er die Monster auch ohne seine Kraft besiegen kann. Im Zuge dieses Kampfes wird Meg von einer umfallenden Säule getroffen. Aufgrund der vorher vereinbarten Bedingung erhält Hercules seine Kraft zurück und kann so den Olymp retten.
Im Fall von Hercules wählt Disney einen etwas anderen Weg: Hercules hat durch seine Kraft eigentlich die meiste Zeit die Oberhand. Er ahnt nur nichts von Hades' Komplott und weiß nicht, dass Meg anfangs für Hades arbeitet. Erst durch den Handel mit Hades schwächt er seine eigene Position.
Aladdin – Dschafar
Kurz ein paar Worte zur Story: Dieser Film ist angelehnt an die arabische Sagenwelt. Aladdin ist ein Straßenjunge, der sich mit Diebstählen über Wasser hält. Er trifft zufällig auf die verkleidete Prinzessin Jasmin und verliebt sich in sie. Allerdings stehen seine Chancen eher schlecht, da die Prinzessin laut Gesetz einen Prinzen heiraten muss.
Sein Gegenspieler ist Dschafar, der Großwesir des Sultans. Er hat es auf den Thron abgesehen und will die Herrschaft über Agrabah mithilfe eines Dschinnis an sich reißen. Ohne es zu wissen, wird Aladdin von Dschafar engagiert, die Wunderlampe aus einer Schatzhöhle zu holen. Es verläuft jedoch nicht alles nach Plan und die Höhle stürzt ein, bevor Aladdin Dschafar die Wunderlampe überreichen kann. Aladdin weckt versehentlich den Dschinni aus der Lampe und hat nun nach den Regeln der Flaschengeister drei Wünsche frei. Als erstes wünscht er sich, ein Prinz zu sein, damit er um die Prinzessin werben kann. Doch damit stellt er sich Dschafar in den Weg, der ebenfalls ein Auge auf die Prinzessin geworfen hat.
Kommen wir nun zum Ungleichgewicht zwischen Aladdin und Dschafar:
Aladdin: Im Gegensatz zum oben erwähnten Hercules ist Aladdin nicht sonderlich stark. Dafür ist er clever. Er legt sich eine Strategie zurecht, bevor er handelt und er denkt um die Ecke. So kann er Dschinni beispielsweise überlisten, damit dieser ihn aus einer Höhle befreit, ohne dafür einen seiner drei Wünsche einlösen zu müssen.
Dschafar: Der Großwesir des Sultans ist hinterlistig und ähnlich clever wie Aladdin. In dieser Hinsicht sind sich die beiden also ebenbürtig, auch wenn Dschafar um einiges rücksichtsloser vorgeht.
Solange es nur um die geistige Stärke geht, kann sich Aladdin gegen Dschafar behaupten. Das Kräfteverhältnis verschiebt sich allerdings entscheidend, nachdem Dschafar die Wunderlampe in seinen Besitz bekommt. Als erstes wünscht sich Dschafar, dass Dschinni ihn zum Sultan von Agrabah macht. Sein zweiter Wunsch lautet, der mächtigste Zauberer der Welt zu sein. Damit erhält er übermenschliche Kräfte, gegen die Aladdin allein durch seinen Verstand nicht ankommt. Dschafar wird zum übermächtigen Gegenspieler.
Wie wird Dschafar am Ende besiegt? Zum Ende hin ist Aladdin eindeutig unterlegen. Dschafar hat sich in eine überdimensional große Cobra verwandelt und hat Aladdin fest im Würgegriff. Doch hat Aladdin eine entscheidende Idee. Er sagt Dschafar, dass er vielleicht der mächtigste Zauberer der Welt wäre, aber der Dschinni immer der Stärkere von ihnen beiden bleiben würde. Dies leuchtet Dschafar ein, woraufhin er sich wünscht, ebenfalls ein Dschinni zu werden. Und damit tappt er in die Falle, die Aladdin ihm gestellt hat: Jeder Dschinni ist nämlich ein Gefangener seiner Lampe und bleibt dies solange, bis sein Meister ihm die Freiheit wünscht. Dschafar wird zum Dschinni und schließt sich somit selbst in seiner Wunderlampe ein.
Aladdins Fähigkeit, einen Schritt weiter zu denken, ist hier der entscheidende Schlüssel für seinen Sieg. In diesem Fall nutzt Dschafar auch seine körperliche Stärke nicht weiter.
Fazit
Held und Gegenspieler stellen in gewisser Weise ein gegensätzliches Paar dar. Beide haben ein Ziel vor Augen. Dieses können sie aber nur erreichen, solange der jeweils andere scheitert. Und beide haben unterschiedliche Fähigkeiten, durch die sie versuchen, den anderen zu Fall zu bringen. Genau dadurch kommt die Geschichte in Gang.
Stellt euch einmal vor, Hercules würde gegen Dschafar antreten und Aladdin gegen Hades. Hier würden Stärke auf Stärke und Cleverness auf Cleverness stoßen. Das Ungleichgewicht zwischen den Charakteren wäre kaum vorhanden.
Du möchtest mehr über die Entwicklung von Charakteren erfahren? Dann könnte mein Schreibratgeber “Echter als die Realität. Romanfiguren entwickeln” interessant für dich sein.
Sieh dir bei deinem nächsten Romanprojekt den Protagonisten und den Antagonisten einmal genauer an. Ist die Schwäche des Helden die Stärke des Gegenspielers? Sind ihre Kräfte unterschiedlich verteilt?
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Zum Weiterlesen:
- Der Antagonist ist immer der Böse – Regeln für Gegenspieler, gegen die man verstoßen kann und sollte
- Faszination Antagonist
- Welches Konfliktpotenzial steht zwischen deinen Charakteren?
Über die Autorin:
Caro schreibt Fantasy- und Liebesromane und was ihr sonst noch so einfällt. Da sie ein unverbesserlicher Stubenhocker ist, arbeitet sie von Zuhause aus als Ghostwriter und Lektorin. Unter @Caro_Stein zwitschert sie über ihr Autorenleben.
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