Samstag, 10. Oktober 2015

Im Korsett und hinter Spitzenvorhängen - Wie prüde waren die Viktorianer?

Denkt man an die viktorianische Ära, hat man weit ausladende Kleider, Herren mit Zylindern und eine sehr zugeknöpfte Zeit vor Augen. Man blickt auf die industrielle Revolution und die Arbeiterbewegung. Literatur ist etwas für den samtbezogenen Salon mit schmucken Sitzgelegenheiten und üppigen Blumenarrangements in Porzellanvasen.



Tatsache, das ist ein Teil davon. Doch wie sieht es mit der Thematik der Bücher aus? In England finden wir Bücher wie Charles Dickens „Oliver Twist“, die Bücher der Bronteschwestern oder Elizabeth Gaskells Romane über das Leben in den Industriestädten. Oscar Wildes Bücher schockierten die Leser und Alfred Lord Tennysons Gedichte wurden nach heutigem Maßstab Kassenschlager.

Nicht zuletzt lösten einige dieser Werke Skandale aus und wurden zugleich Publikumslieblinge, die bis heute aufgelegt werden.


Figuren und Umfeld

Zunächst ist ein Roman kein Sachbuch, keine Anthologie. Viele dieser Bücher sind nicht wie heute sofort in fertiger Buchform erschienen, sondern in Zeitschriften wöchentlich als Fortsetzungsroman und auch immer ein leichter Hauch des Verbotenen schwang mit. Auch war das Klientel wichtig: gelesen wurden diese Bücher in den großbürgerlichen Häusern und den Adelsfamilien - und genau in dieser Schicht leben zumeist auch die Figuren oder zumindest bewegen sie sich in diesem Umfeld. So etwa ist die Hauptfigur Jane Eyre von Charlotte Bronte eine Gouvernante im Hause eines Gutsbesitzers und Margaret Hale die Tochter eines Pfarrers und Nichte einer wohlhabenden Londoner Dame.
Befasst man sich ein wenig mit dieser Zeit, bemerkt man, wie rigide die gesellschaftlichen Vorstellungen waren: Frauen und Männer sind selten alleine in einem Raum, Gespräche werden in der Kunst des Small Talk geführt und eigentlich dürfen nur bestimmte Themen besprochen werden. Hier erwähnen die Autoren meistens in einigen kurzen Beobachtungssätzen, dass die Figuren sich ”angeregt” unterhalten oder ”mit viel Elan plaudern”.
Wie aber kann man nun in diesem sehr engen moralischen Kodex eine Liebesgeschichte schreiben? Oder auch eine Form von Begehren ausdrücken? Sehr häufig lassen Autoren die Figuren beobachten und uns zugleich an ihrem Seelenleben teilhaben. Ein sehr gutes Beispiel ist dazu die Beschreibung von Elizabeth Gaskell, als John Thornton Margaret Hale beobachtet, wie sie Tee einschenkt:
” Sie stand neben dem Teetisch in einem pastellfarbenen Musselinkleid, das ziemlich viel Rosa an sich hatte. Sie sah aus, als hörte sie nicht der Unterhaltung zu, sondern als wäre sie einzig mit den Teetassen beschäftigt, zwischen denen sich ihre gerundeten elfenbeinfarbenen Hände mit liebreizender, geräuschloser Anmut bewegten. An einem der schmaler werdenden Unterarme trug sie einen Armreif, der ihr immer wieder auf das runde Handgelenk fiel. Mr. Thornton beobachtete das Zurückschieben dieses lästigen Schmuckstücks mit weit mehr Aufmerksamkeit, als er ihrem Vater zollte. Es schien, als faszinierte ihn mit anzusehen, wie sie es ungeduldig hochschob, bis es ihr leicht in das weiche Fleisch schnitt, um dann die Loslösung, den Fall, zu beobachten.” (Elizabeth Gaskell, Christina Neth (Übers.): Norden und Süden, BoD - Books on Demand, Norderstedt 2014, S. 97)
Wie man bei dieser Beschreibung sehr schön beobachten kann, wird viel über die Wahrnehmung transportiert. Man kann sich heute sehr schwer vorstellen, dass es eine Zeit gab, in der Berührungen verboten waren, in der Männer und Frauen nicht einfach ungezwungen reden durften. Gerade im Bereich des Realismus, denen Bücher wie North & South zugeordnet werden, entsteht ein ganz eigentümliches Charakterbild dadurch, da diese Beobachtungen häufig von den männlichen Protagonisten gemacht werden, diese Figuren damit folglich nicht dem Bild vom Mann entsprechen, als Familienoberhaupt, der ruhig beherrscht und kontrolliert ist, sondern durchaus einem Menschen mit Fehlern und einer starken, fast nicht geschulten Emotion. Und dieses Motiv setzte sich interessanterweise durch: Männer, die untypisch für das Bild, verletzlich sind und zugleich Frauen, die zwar aufgrund ihrer Erziehung in einer bestimmten sozialen Rolle verbleiben, aber weitaus selbstbewusster sind, als man es erwartet.


Romantik oder Sexualität aufkommen lassen?

Erotische Beziehungen im viktorianischen Zeitalter zu beschreiben klingt erst einmal befremdlich, denn eines der Vorurteile über die Moral des 19.Jahrhunderts besteht eben darin, dass sich die Herren außerhalb des Hauses mit Prostituierten oder Mätressen vergnügten, während die Ehefrauen den Status einer Halbgöttin innehatten oder die Ehe dem gesellschaftlichen Druck geschuldet war. Hartnäckig auch die Klischee, dass Frauen sich vor ihrer eigenen Sexualität fürchteten und sie als ”abnormal” empfanden. Ein wunderbares Gegenbeispiel dazu ist der Band von Peter Gay: „The Bourgeois Experience. Victoria to Freud.“ Der Autor setzt sich in diesem Band mit einer Reihe von Briefen auseinander, in denen die Damen und auch ihre Ehemänner freizügig über die Freuden des Ehelebens und ihrer Sexualität schreiben.
Was lehrt uns aber auch die Literatur der Zeit: die Autoren konnten durch zufällige Begegnungen, durch flüchtige Berührungen oder Beobachtungen ein Knistern erzeugen, zugleich aber auch schockieren, weil es ein Stück weit verboten war. Und wenn man etwas verbieten kann, wird es zugleich aufregender.
Daher auch einfach: Andeutungen reichen auch aus. Man kann dem Leser überlassen, wie weit er gehen will.


Zusammenfassung:


  • Weniger ist mehr
  • Stimmung durch Beschreibung und/oder Andeutung
  • Sexualität ist nicht automatisch mit Sex oder Unmengen viel Haut verbunden
  • Wahrnehmung
  • Pokerface vs. Emotion

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