Samstag, 7. Mai 2016

Das Mittelalter – „Ja, so warn‘s, die alten Rittersleut!“

Moderne Autoren blicken auf eine lange, illustre Ahnenreihe zurück. Denn die Literatur als Kunstform ist im deutschen Sprachraum seit etwa (da scheiden sich die Geister ein wenig) dem 9. Jahrhundert existent – das Hildebrandslied aus diesem Zeitraum gilt als eines der ersten deutschsprachigen Literaturstücke. Über 1000 Jahre Literaturgeschichte liegen also hinter uns.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist es klar, dass diese lange Dauer Spuren und Einflüsse hinterlassen hat, die bewusst oder auch unbewusst die heutigen Schriftsteller inspirieren, beeinflussen und leiten. Dies gilt nicht nur für historische Romane, die natürlich den Anspruch haben, möglichst dicht an der betreffenden Zeit zu bleiben, sondern auch für alle anderen Genres. Denn Elemente aus der langen Literaturgeschichte finden immer wieder Platz in aktuellen Veröffentlichungen. Ein Blick in die verschiedenen Epochen lohnt sich also. Als Geburtsstunde der deutschen Literatur lässt sich das Mittelalter bezeichnen.




Viele Gesichter einer Epoche

Kaum eine Epoche ist so sagenumwoben wie das Mittelalter. Burgfräulein, romantische Minnesänger, heldenhafte Drachentöter – oder doch eher Hexenverfolgungen, finstere Folterkeller und die wütende Pest? Sowohl als auch. Und weder noch.

Beim Begriff des Mittelalters spricht man eigentlich über drei Zeitabschnitte, die sich voneinander grundlegend unterscheiden:
  • das frühe Mittelalter (5. bis 10. Jahrhundert) 
  • das Hochmittelalter (10. bis 13. Jahrhundert) 
  • das Spätmittelalter (13. bis 15. Jahrhundert) 
Dabei hat natürlich jeder dieser Zeitabschnitte seine besonderen Merkmale.

Beim Frühmittelalter bewegen wir uns noch in der althochdeutschen Zeit. Die Christianisierung ist erst in ihren Anfängen, sodass literarisch in dieser Phase sowohl germanische Mythen und Legenden (etwa das „Hildebrandslied“ oder die „Edda“) als auch frühe christliche Dichtungen zu finden sind (beispielsweise der „Heliand“), die zur Missionierung der Germanen dienten.

Das Hochmittelalter ist der Zeitabschnitt, der von seinen Auswirkungen her am interessantesten für die heutige Literatur ist. Dazu aber später mehr. Hier befinden wir uns in der Zeit der höfischen Dichtung. Das kulturelle Leben findet hauptsächlich an den Herrscherhöfen statt, wo oftmals reiche Mäzene für die Förderung der Künstler sorgten. Dadurch war die Literatur vornehmlich für den Adel bestimmt.

Einflussreiche Genres entstanden, die bis weit in die Neuzeit hinein strahlten: Heldendichtung und hohe Minne. Wichtige Vertreter, die auch heutzutage noch bekannt sind, sind die Artusromane über die legendären Ritter der Tafelrunde und die Gralssuche sowie Minnedichtung, deren bekanntester Vertreter wohl Walther von der Vogelweide sein dürfte. Die Sprache jener Zeit war Mittelhochdeutsch, das mit etwas Mühe auch heute verstanden werden kann.

Mit dem Spätmittelalter neigte sich die Epoche schon in Richtung Neuzeit. Die Ordnung der ritterlichen Gesellschaft zerfiel zugunsten eines Erstarkens des Bürgertums. Neue Formen der Literatur konnten entstehen, die nicht nur für die oberen Zehntausend gedacht waren, so das Volkslied und das Volksbuch. Auch erste Formen der Satire (beispielsweise Till Eulenspiegel) entstanden, die mit den weltlichen und geistlichen Obrigkeiten abrechneten.

Als Endpunkt des Mittelalters setzt man den Zeitraum zwischen dem ausgehenden 15.- bis zum beginnenden 16. Jahrhundert mit der Entdeckung Amerikas oder aber spätestens mit der Erfindung des Buchdrucks und dem Ausbruch der Reformation. Völlig neue, aufklärerische Ideen revolutionierten die europäische Welt und führten von der mittelalterlichen Gesellschaft weg. Durch das Lutherdeutsch entstand außerdem das frühe Neuhochdeutsch, das heute zwar altertümlich wirkt, aber leicht verständlich ist.


Das hohe Mittelalter: steter Quell für Inspiration

Wie bereits erwähnt, ist das Hochmittelalter die Phase, die für die heutige Literatur besonders ergiebig ist. Denn hier findet man genau das, was uns heute an der vergangenen Zeit so fasziniert: ritterliche Tugenden, große Ziele und Ideale. Das Hochmittelalter ist geprägt von höfischen Wertvorstellungen wie:
  • hoher muot (Hochstimmung) 
  • mâze (Mäßigung) 
  • êre (Ehre, Ansehen) 
  • triuwe (Treue) 
  • zuht (Anstand) 
  • staete (Verlässlichkeit) 
(um nur einige zu nennen.)

Diese Elemente eignen sich hervorragend, um auch in der modernen Literatur seinen Protagonisten zu konstruieren, denn wenn man genau hinschaut, beinhaltet der Held der Story (solange es nicht der klassische Antiheld ist) zahlreiche Attribute der ritterlichen Ordnung. Insofern ist es lohnenwert, sich bei der Charakterisierung seines Protas einmal die klassischen Tugenden des Rittertums vor Augen zu führen. Vielleicht wartet hier ja eine besondere Inspiration.


Minne: Liebesroman der alten Schule

Bei der Minnedichtung geht es vereinfacht ausgedrückt nur um eines: das Anschmachten einer unerreichbaren, idealisierten Frau. Der Minnedichter besingt die Vorzüge der Dame, die praktischerweise zumeist die Frau des Gönners ist. Somit ist die Angebetete natürlich unerreichbar (denn welcher Minnedichter ist so fahrlässig, sich mit der Frau seines Geldgebers einzulassen?) Damit bleibt die Liebesdichtung keusch und unschuldig, wie es sich gehört, denn Schlüpfrigkeiten waren damals nicht sonderlich en vogue. Es geht ausschließlich um das Anpreisen der unerreichbaren Dame, Komplimente, die dem Geldfluss sicherlich nicht ungelegen kommen.

Die Minnedichtung ist die Keimzelle der heutigen Liebeslyrik und auch des modernen Liebesromans. Zwar müssen diese modernen Formen durchaus nicht keusch bleiben, aber oftmals finden sich auch heute noch starke Elemente der hohen Minne, vor allem, wenn es sich um eine unerreichbare Liebe handelt, sodass die Liebesgeschichte voller Romantik und Tragik verläuft.
Man denke allein an die Balkonszene aus „Romeo und Julia“, die als Vorlage für zahlreiche Liebesszenen dient. Der „Minneritter“ steht unten und preist die Holde an, die unerreichbar auf dem Balkon steht und die Huldigungen entgegennimmt. Ob der Lohn in Form einer Liebesnacht darauf folgt? Das liegt rein im Ermessen des Autors. Shakespeare war da ja nicht so kleinlich wie seine mittelalterlichen Schriftstellerkollegen.


Ein Genre, viele Formen: Fantasy

Gerade im Bereich der Fantasy gibt es Strömungen, die die Kultur und insbesondere die Literatur des hohen Mittelalters zur Inspiration nehmen und gleichsam in ganz neu erschaffene Welten transformieren. Der Klassiker überhaupt ist hier ganz sicherlich Tolkien mit seiner „Herr der Ringe“-Welt. Hier findet man alles vereint, was das hohe Mittelalter zu bieten hat: ritterliche Helden, die hohe Kunst der Minne, ehrenvolle Taten, selbst der sprichwörtliche Kampf mit dem Drachen ist nicht fern.

Von Tolkien aus entwickelten sich in jüngerer Vergangenheit etliche Strömungen innerhalb der Fantasy bis hin zu Crossover-Genres (Urban Fantasy, Dark Fantasy und alle möglichen Mischformen), die aber alle auf das hohe Mittelalter deuten. Um hier also eine glaubhafte, stringente Welt aufzubauen, ist es sicherlich nicht falsch, die Grundlagen zu kennen und Motive entlehnen zu können, die miteinander harmonieren und eine aufbauende Logik beinhalten.


Schreibübung: Helden-Steckbrief

Um sich darüber klarzuwerden, wie der Held der Story beschaffen sein soll, lohnt es sich, einmal genauer nachzudenken, ob und welche Elemente des hohen Mittelalters er vereinen soll. Kann man mit manchen Eigenheiten spielen und sie abwandeln? Einfach mal einen Steckbrief über den Prota auf Basis der mittelalterlichen Tugenden schreiben und schauen, welche Charakterisierung dabei entstehen kann.

zum Weiterlesen:


Katrin schreibt nicht, sie lässt schreiben und verleiht als Lektorin den Texten den letzten Schliff. Was sie liest, rezensiert sie gern auf https://nowheremansbuecherschrank.wordpress.com/


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