Samstag, 15. April 2017

Nicht ohne meinen pivotalen Charakter

Als Akkarin, mein erster und ewiger Lieblingscharakter, eines sinnlosen Todes starb, war für mich klar, dass ich eine Fortsetzung der Black Magician Trilogy niemals lesen würde, sollte es denn eine geben. Die Reihe war für mich ruiniert. Abgesehen davon, dass Akkarin Dreh- und Angelpunkt der gesamten Trilogie war, hatte sein Tod keinerlei Mehrwert für die Handlung. Durch ihn ging eine Menge großartiges Potential für eine großartige Fortsetzung verloren. Er musste nur sterben, weil die Autorin kein Happy Endings schreiben wollte. Ungeachtet der Tatsache, dass sein Überleben nicht mit einem kitschigen Happy End gleichzusetzen wäre. 

 

Seitdem betrachte ich jeden Charaktertod sehr kritisch und versuche zu bewerten, ob sein Tod Mehrwert für die Handlung hat, oder ob es ohne ihn einfach nicht mehr funktioniert – ob mit ihm die Essenz der Geschichte, das was sie für mich lebendig gemacht hat, gestorben ist. Inwiefern eine Geschichte weiterhin funktioniert, hängt auch davon ab, wie sie konstruiert ist. Hat man mehrere Hauptcharaktere, deren Bedeutung für die Handlung ähnlich stark ist, so wird der Ausfall einer Figur häufig von den anderen Charakteren aufgefangen, wodurch sein Verlust kaum ins Gewicht fällt, auch wenn er zunächst weh tut. George Martin gelingt das in seiner Reihe A Song Of Ice And Fire sehr gut.

Anders ist es bei Charakteren wie Akkarin. Sie sind so zentral für eine Geschichte, dass diese Geschichte ohne sie ihre Essenz verliert. Dazu müssen sie nicht einmal der Protagonist sein. Häufig sind sie sehr komplex aufgebaut und das allmähliche Enthüllen ihrer Persönlichkeit zieht den Leser mehr und mehr in seinen Bann, während sich darüber zugleich die Komplexität der Handlung entfaltet. Ich nenne sie daher pivotale Charaktere (von engl. Pivot = Dreh- & Angelpunkt). Solche Charaktere haben häufig die Angewohnheit, sich in den Herzen der Leser einzunisten. Egal, ob gut, böse oder irgendetwas dazwischen – sie sind so geschrieben, dass es nahezu unmöglich ist, sie nicht zu lieben.

Solche Charaktere machen die Geschichte, in der sie existieren, erst richtig lebendig. Sie verleihen der Handlung Essenz und sorgen dafür, dass die Leser wissen wollen, wie es weitergeht. Zugleich zwingt dies den Autor jedoch auch in die Verantwortung, sorgsam mit seinem Charakter umzugehen. Das heißt nicht, dass ein pivotaler Charakter nicht gequält, gefoltert, entmachtet oder getötet werden darf. Das heißt, dass alles, was ihr ihm antut, sehr sorgfältig bedacht werden muss, weil es erhebliche Auswirkungen sowohl auf die Handlung als auch auf die Leser haben kann. Fragt euch: Wenn euer pivotaler Charakter auf Grund von Tod oder anderen unschönen Umständen ausfällt, kann die Handlung von den anderen Charakteren getragen werden? Welche Auswirkung hat sein Tod auf die anderen Charaktere?

Entscheidet ihr, euren pivotalen Charakter umzubringen, so sollte sein Tod einen Mehrwert für die Handlung haben. Sorgt dafür, dass das Loch, das sein Tod aufreißt, auf eine Weise gefüllt werden kann, die eure Leser für den Tod entschädigt. Auch sollte sein Tod zur Entwicklung der Charaktere aus dem Dunstkreis jenes Charakters beitragen. Versucht nicht um jeden Preis, einen schnellen Ersatz zu finden, lasst seinen Mitstreitern und den Lesern Zeit, sich umzugewöhnen. Seid kreativ bei den Charakteren, die ihn ersetzen.

Ein gutes Beispiel für einen pivotalen Charakter, dessen Tod einen echten Mehrwert hat, ist Kelsier aus Mistborn – The Final Empire von Brandon Sanderson. Sein Tod reißt ein regelrechtes Loch in die Gemeinschaft der übrigen Charaktere. Und genau dies nutzt Sanderson als Aufhänger, um die düstere und desolate Lage im zweiten Band zu beschreiben. Obwohl ich Kelsier sehr mochte, konnte ich seinen Tod verschmerzen. Hätte er überlebt, so hätte seine weitere Entwicklung geradewegs zu einer Katastrophe geführt. Zugleich schöpft Sanderson aus dem Potential, das sich aus seinem Tod ergibt, für die Folgebände, indem er Kelsiers Mitstreiter dazu zwingt, sich den folgenden Herausforderungen ohne ihn zu stellen, während seine Anhänger zugleich einen Kult um ihn ins Leben rufen, worüber er posthum zu einem Hoffnungsträger wird. Mir als Leser vermittelte dies das Gefühl, dass Kelsier noch immer irgendwo 'da' ist.

 

Der metaphorische Tod

Neben dem Töten eines pivotalen Charakters gibt es eine weitere Gefahrenquelle. Auch drastische Wendungen, Schicksalsschläge, Enthüllungen und irreversible Veränderungen beinhalten ein Risiko, dass man zerstört, was die Leser an diesem Charakter so sehr geliebt haben. Mit einem Mal erfüllt er nicht mehr die Funktion, die er zuvor für die Geschichte hatte. Erst vor kurzem hätte ich deswegen beinahe eine großartige Buchreihe abgebrochen. Vielleicht auch hat sich das Bild, das die Leser von ihm hatten, gewandelt. Ein plötzlich unsympathisch oder nutzlos gewordener Hauptcharakter kann dazu führen, dass die Leser Buch weglegen und nie wieder anfassen.

Daher ist es auch hier wichtig, sich die Konsequenzen zu überlegen. Neben den Folgen für die übrigen Charaktere und die Handlung an sich stellt sich hier die Frage, wie die Leser ihren Helden weiterhin lieben und mit ihm mitfiebern können. Versetzt euch in ihre Situation und überlegt, was es für euch brauchen würde, damit ihr euch weiter an diesem Charakter erfreuen könnt. Verliert er seine herausragendste Fähigkeit? Gebt ihm eine neue Aufgabe oder lasst ihn eine Entwicklung durchleben, die ihm hilft, ohne diese Fähigkeit zurechtzukommen. Vielleicht entwickelt er darüber gar ein neues Talent oder entdeckt eines, von dem er gar nicht wusste, dass er es besitzt, und ist mit einem Mal wieder ’im Geschäft’. Enthüllt ihr sein dunkelstes Geheimnis, woraufhin er mit einem Mal für den Antagonisten gehalten wird? Lasst die Leser zweifeln, dass er wirklich böse ist. Spielt mit ihren Gefühlen. Einem Charakter, der zuvor schon für gut und sympathisch befunden wurde, wird eine solche Enthüllung eher verziehen, als einem, der von Anfang an unbeliebt war. Auf diese Weise könnt ihr die Leser an die Story fesseln und dazu bringen, mehr zu wollen. Und so könnt ihr die Falle in einen Vorteil umwandeln, um euren pivotalen Charakter noch komplexer zu gestalten und die Leser weiterhin mit ihm mitfiebern zu lassen.

Sowohl in ihrem Leben als auch nach ihrem (metaphorischen) Tod haben pivotale Charaktere große Auswirkungen auf die Handlung. Dieser sollte man sich vorab bewusst sein, um die Geschichte glaubhaft und für die Leser ansprechend weiterzuentwickeln. Der Tod eines solchen Charakters wird von den Lesern bereitwilliger angenommen, wenn er für ein höheres Wohl stirbt und auf eine Weise, die ihm gerecht wird, als wenn man ihn mit zwei flapsigen Sätzen dahinrafft. Und natürlich habt ihr immer die Option des eleganten und finalen Auswegs: die Geschichte mit seinem Tod sterben zu lassen.

Ich habe jene Buchreihe übrigens weitergelesen und bin dankbar, dass ich es getan habe. Denn es kam dann doch nicht ganz so schlimm wie befürchtet und Malträtierung meines Lieblingscharakter war in Wirklichkeit der Auftakt zu einer spannenden Charakterentwicklung.


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Zum Weiterlesen:


Sonea schreibt Fanfictions auf Fanfiktion.de und bloggt übers Schreiben und ihre Projekte auf Tales From Kyralia.


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