Mittwoch, 21. September 2016

Sensibler Umgang mit Gewalt und Missbrauch

Im heutigen Artikel möchte ich euch ein Thema näherbringen, das mir persönlich sehr am Herzen liegt: der sensible – oder vielmehr angemessene – Umgang mit Gewalt- und Missbrauchsthemen.


Darüber zu sprechen halte ich für wichtig und notwendig, denn als Autoren haben wir mit dem, was wir schreiben und wie wir schreiben, Macht über unsere Leser. Wir können sie beeinflussen, für bestimmte Themen sensibilisieren und damit ihre Denkweise beeinflussen. Wir sind unseren Lesern Vorbilder.

Deswegen ist es umso wichtiger, dass ihr, sobald eure Romane Gewaltthemen beinhalten, diese mit einem angemessenen Fingerspitzengefühl angeht und den Lesern nicht den Eindruck vermittelt, Gewalt wäre legitim. Gerade in meinem Lieblingsgenre Fantasy stoße ich immer wieder auf unsensiblen Umgang mit Gewalt und Missbrauch, wodurch der Eindruck vermittelt wird, dass diese Dinge legitim wären: Ein Charakter tötet – sei es im Kampf oder aus Notwehr – zum ersten Mal einen Menschen, setzt sich aber hinterher nicht oder nur wenig damit auseinander. Eine Frau wird von Barbaren oder einem Soldatentrupp vergewaltigt und lebt danach normal weiter. Jemand wird entführt oder auf übelste Weise schikaniert und verliebt sich schließlich in den Peiniger, weil er ja eigentlich doch ganz nett ist und es wiedergutmacht.

Das ist Verharmlosung. Dass es in einer Fantasywelt oder einem historischen Roman so geschildert wird, bei dem häufig davon ausgegangen wird, dass die Menschen härter im Nehmen waren, ist keine Rechtfertigung. Und auch in einer Fantasywelt gelten Regeln und Grundsätze, die Gewalt bestrafen. Aber auch in anderen Genres lässt sich unsensibler Umgang mit diesen Themen finden.

Um über physische und psychische Gewalt zu schreiben, braucht es Einfühlungsvermögen und vor allem gute Recherche. Im Folgenden versuche ich euch ein wenig für die Folgen von Gewalt zu sensibilisieren.


Vergewaltigung

Ein Opfer von Vergewaltigung oder Missbrauch kann sich nicht in seinen Peiniger verlieben. Auf Grund der seelischen und körperlichen Verletzungen ist es unmöglich, dass daraus eine gesunde Beziehung entstehen kann. Das Opfer kann jedoch ein Stockholm-Syndrom entwickeln. Durch wohlwollendes Verhalten von Seiten des Täters fängt das Opfer an, mit diesem zu sympathisieren und häufig auch zu kooperieren. Auch Kontrollverlust ob der eigenen Situation als Schutzmaßnahme kann dazu führen. Es entsteht eine emotionale Abhängigkeit, die umso stärker ist, je länger die traumatisierende Situation andauert. Dabei können Gefühle entstehen, die für Verliebtsein gehalten werden, aber nicht mit damit verwechselt werden dürfen.

Nach dieser Erfahrung hat das Opfer Schwierigkeiten, sich wieder auf einen neuen Mann oder den eigenen Partner einzulassen. Es hat Berührungsängste und Schwierigkeiten zu vertrauen. Manche kommen nie über das Erlebte hinweg und leiden ihr Leben lang an Depressionen, Albträumen, Flashbacks und erleben die Situation im Geist wieder und wieder. Nicht wenige sind über Jahre auf psychologische Hilfe angewiesen.

Vergewaltigungen sind eine massive Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung des Opfers. Sie hinterlassen häufig schwere, psychische Schäden, während die Täter auf diese Weise Macht ausüben und das Opfer gezielt erniedrigen. Das hat nichts mit Vergewaltigungsphantasien oder BDSM-Rollenspielen zu tun.

Nicht nur im Fanfiction-Genre, sondern auch in Romanen finden sich Geschichten, in denen das Opfer romantische Gefühle für seinen Peiniger entwickelt und beide schließlich ein glückliches Paar werden.

Schon in der klassischen Literatur wurden Vergewaltigungen neben Frauenraub und Zwangsverheiratung kritisch betrachtet. In der griechischen Mythologie wird von der Entführung der Persephone durch Hades, den Gott der Unterwelt berichtet. Dieser hatte sich in Persephone verliebt und entführte sie wissend, sie würde ihm nicht freiwillig in die Unterwelt folgen. Eine römische Sage handelt vom Raub der Sabinerinnen, der aus einem Mangel an männlichen Kämpfern heraus geschah. Es heißt, diese Frauen wurden nach und nach zu einer Heirat bewogen. In anderen Geschichten nehmen Frauen Rache an ihrem Peiniger, so wie Philomena in der griechischen Mythologie, die ihrem Vergewaltiger die zerstückelten Glieder seines Sohnes zum Essen vorsetzt. In wieder anderen Werken rettet die Frau ihre Ehre, indem sie Selbstmord begeht, oder wird von Vater oder Bräutigam gerächt.

Die Marquise von O von Heinrich Kleist thematisiert ein Thema, das selbst heute noch aktuell ist: die Vergewaltigung eines bewusstlosen Opfers. Dieses heiratet den Täter, nachdem sich herausgestellt hat, dass dieser sie geschwängert hat und weil er sie aufrichtig liebt. Was auf den ersten Blick unsensibel scheint, ist in Wirklichkeit jedoch eine schonungslose Kritik an der Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts.

Tatsächlich wurden Vergewaltigungen bis in die 80er als Subgenre des trivialen Liebesromans romantisiert, weil es den Autorinnen ermöglichte, sexuelle Phantasien ausführlich darzustellen, bei denen die Protagonisten passiv sein durften.


Mobbing

Jemand, der jahrelang unter Mobbing litt, verliebt sich ebenfalls nicht in seinen Peiniger, auch wenn die Geschichte von Feinden, die zu Freunden wurden, immer wieder gerne erzählt wird. Es gibt Fälle, in denen Opfer und Täter sich irgendwann aussöhnen. Inwieweit das Opfer Bereitschaft empfinden kann, dem ehemaligen Peiniger Sympathie entgegenzubringen oder ihm zu vergeben, hängt gewiss auch von der Schwere des Mobbings und den erlittenen seelischen Verletzungen ab. Rivalitäten unter Schülern, die sich mit dem Älterwerden auswachsen und auf Gegenseitigkeit beruhen, sind etwas anderes als Mobbing mit schweren seelischen Folgen, Körperverletzung oder der bereitwilligen Inkaufnahme selbiger von Seiten des Täters. Und auch diese kommen immer häufiger schon unter Schülern vor. Wem dies widerfahren ist, dem ist es nahezu unmöglich, zu seinem Peiniger jemals wieder Vertrauen zu fassen. Gerade schweres Mobbing mit Körperverletzung oder massiver psychischer Gewalt zeigt zudem auch eine gewisse Gewaltbereitschaft und Sadismus beim Täter – etwas, wovor man sich schützen sollte.

Dass man seinem Peiniger dessen Taten irgendwann vergibt, bedeutet nicht, dass man genug Vertrauen zu diesem fassen kann, um zu ihm eine gesunde, wie auch immer geartete Beziehung aufzubauen. Opfer von Mobbing leiden oft jahrelang unter den Folgen, ziehen sich von anderen Menschen zurück und haben Schwierigkeiten, zu vertrauen. Oft leiden sie unter Depressionen und sozialen Ängsten. Andere wiederum reagieren ihrerseits mit Gewalt gegen andere.


Andere Formen von körperlicher Gewalt

Selbiges gilt für Entführungen, Folter und Gemetzel aller Art. In Bezug auf Folter und Sadismus finde ich die Darstellung der Bösewichte Joeffrey Baratheon und Ramsay Bolton in ’A Song Of Ice And Fire’ und die Furcht und Folgen bei ihren Opfern sehr eindrucksvoll dargestellt und alles andere als verherrlichend. Beide neigen zu großer Grausamkeit und genießen die Macht, die sie über ihre Opfer haben. So nimmt Ramsay Bolton den Verräter Theon Greyjoy gefangen und foltert ihn auf jede erdenkliche Weise körperlich und seelisch, bis dieser bricht. Die Folterszenen werden nur in Rückblenden geschildert, doch das genügt, um das Grauen und Leiden Theons mitzuerleben.

Neben durch Verletzungen zugefügten (irreparablen) Körperschäden leiden die Opfer von Folter häufig unter anderem an psychosomatischen Folgen wie Herzbeschwerden, Schlafstörungen, Schmerzen oder Atemnot. Schlimmer und langanhaltender sind jedoch die seelischen Folgen, die vor allem durch das Gefühl, einen inneren Fremdkörper in sich zu haben, zum Ausdruck kommen. Opfer von Folter können diesen nur schwer bekämpfen. Zu den seelischen Folgen gehören auch Angstzustände, zwanghaftes Verhalten, Aggressivität, Rastlosigkeit, Albträume, Depressionen, Flashbacks, aber auch Erschöpfungszustände und Konzentrationsschwierigkeiten.


Wie Täter Gewalt erleben

Aber auch an einem Täter geht das Ausüben von Gewalt nicht spurlos vorüber. Einen Menschen zu töten hinterlässt Spuren in der Seele, selbst wenn man aus Notwehr gehandelt hat. Sehr eindrucksvoll erlebt man dies bei Soldaten, die in einem Kriegsland stationiert waren, wobei hier neben dem Töten nicht selten Folter und Vergewaltigung hinzukommen. Manche stumpfen ab und kompensieren das damit verbundene Grauen durch das Ausüben von Gewalt, andere leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen.


Wie lasse ich meine Charaktere angemessen reagieren?

Jeder Mensch geht anders mit seelischen Traumata um. Dabei spielen bisherige Erfahrungen und die eigene Persönlichkeit, aber auch das Umfeld eine Rolle. Ergründet, wie eure Charaktere ein erlebtes Trauma bewältigen, wie es sie verändert und ob sie daran wachsen oder zerbrechen. Bitte nehmt diese Dinge ernst und spielt sie nicht herunter. Damit macht ihr euch keinen guten Ruf und stoßt jene Leser vor den Kopf, die unter ähnlichen Traumata gelitten haben oder immer noch leiden. Leiht euch Bücher zu diesen Themen, recherchiert im Internet oder fragt jemanden aus eurem Umfeld, der sich mit Psychologie auskennt. Ob ihr sensibel und einfühlsam oder schonungslos schreibt, spielt dabei keine Rolle. Wichtig ist, dass ihr das Thema nicht verharmlost. Je mehr ihr dabei auf die Psyche des Opfers und/oder des Täters eingeht, desto mehr bewegt ihr eure Leser und sensibilisiert sie für dieses Thema.


Gewalt als abschreckendes Beispiel, als Kritik oder in Satiren – ist ein angemessener Umgang hier möglich?

Ja. Viele Antikriegsfilme wie Platoon, Apocalypse Now oder Full Metal Jacket gehen mit diesem Thema sehr schonungslos um und üben auf diese Weise Kritik an Krieg und Gewalt. Allerdings auf eine Weise, die zugleich zeigt, wie viel Leid damit sowohl bei den Opfern als auch bei den Tätern selbst angerichtet wird und welche Traumata dabei ausgelöst werden.

Auf das geschriebene Wort übertragen bedeutet dies: Schildert die Szene nüchtern oder mit einem unterschwelligen Grauen, damit erzielt ihr den besten Effekt bei den Lesern. Werdet aber nur so detailliert, wie ihr selbst gerade noch ertragen könnt, oder überschreitet diese Grenze ein wenig. Auch wenn eure Leser ein unterschiedliches Empfinden haben, wie viel sie ertragen können, hilft euch das, authentischer zu schreiben. Wenn ich einen Charakter auf diese Weise quäle, dann projiziere ich mein eigenes verspürtes Grauen in ihn hinein und reize meine Grenze des Ertragbaren aus. Geht darauf ein, wie das Erlebte eure Figuren verändert und lasst sie sich damit auseinandersetzen – vielleicht nicht sofort, sondern irgendwann in der Geschichte. Häufig verdrängen die Opfer das Erlebte zunächst, bis es irgendwann getriggert durch ein Ereignis, ein Wort, einen Geruch etc. wieder hervorkommt. Diese Verdrängung hilft dabei, eine emotionale Distanz aufzubauen, die gerade zu Beginn für viele Opfer wichtig ist, um nicht daran kaputtzugehen. Überlegt euch, ob euer Charakter ein solcher Typ sein könnte.

Auch bei Satiren ist ein angemessener Umgang mit Gewalt möglich. In einer Satire dürft ihr alles, sofern dabei deutlich wird, dass es eine Satire ist und ihr moralisch verwerfliche Themen verurteilt. Satiren dienen dazu, sich einem Thema auf humoristisch-kritische Weise zu nähern. Seid mutig. Macht es so absurd, wie ihr könnt. Soll dabei Blut fließen, so nutzt den Splatter-Effekt, wie z.B. Tarantino ihn als filmisches Stilmittel verwendet. Der Splatter sorgt dafür, dass die Darstellung als unrealistisch und witzig empfunden wird. Obwohl ich in Bezug auf Gewalt ein sehr sensibles Gemüt bin, kann ich mir solche Filme anschauen. Da ich selbst noch keinen Splatter geschrieben habe, kann ich euch in dieser Hinsicht keine Tipps geben, aber ich würde es comicmäßig, maßlos übertrieben und mit Tarantino im Kopf angehen. Und mit einer ordentlichen Prise schwarzem Humor.

Egal wie authentisch und/oder sensibel ihr Gewaltthemen in eure Geschichten einbringt, es kann immer passieren, dass sie manche Leser triggern, während andere Leser sich daran aufgeilen oder sich eine Romanze zwischen Opfer und Peiniger wünschen. Daran könnt ihr jedoch nichts ändern. Ihr könnt nur so verantwortungsbewusst damit umgehen, wie es euch möglich ist.

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4 Kommentare:

  1. Hallo,
    Das ist ein wirklich wichtiger Beitrag, den ich nur unterstützen kann.
    Gewalt in jeglicher Form sollte man nicht banalisieren. Nicht umsonst heißt es, "schreib was du kennst". Damit meine ich nicht, dass man zwingend Gewalt erlebt haben sollte, um darüber zu schreiben, aber man sollte sich unbedingt damit auseinandersetzen, was es bedeutet Gewalt zu erleben - ja für Täter UND Opfer.
    Vielen Dank für den guten Artikel,
    Erin

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  2. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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  3. ch finde die meisten Bücher, die Gewalt thematisieren absolut schlecht, aus den oben genannten Gründen. Besonders diese Romantisierung von Vergewaltigungen in der Fantasy-Literatur ist ein No-Go.
    Allerdings denke ich auch, dass diese rosa rote Umgangsweise mit Gewalt auch daher kommt, dass die meisten Autoren überhaupt nicht wissen, was Gewalt bedeutet. Gut, denken sich sicher viele, dann gibt es Krieg und man tötet ein paar Menschen und irgendwie geht es dann wieder weiter. So läuft das ja im Krieg. Nunja, zumindest ein bisschen Recherche würde vielen Autoren gut tun.
    Und zwar denke ich, dass erst wenn man das Recherchierte nicht mehr ertragen kann, man sich wirklich auf eine reale Ebene begibt, denn Krieg, Tod, Vergewaltigung etc. sind nun mal Sachen, die ein Mensch nicht einfach so ertragen kann. Ich kann mit ziemlicher Garantie sagen, dass wenn man mal mit einer Frau gesprochen hat, die tatsächlich vergewaltigt wurde, man keine Lust mehr darauf hat, eine Opfer-Täter-Liebesstory zu schreiben.

    Liebe Grüße, Anja
    www.wortlichter.com

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  4. Leider, leider haben viele Autoren keine Ahnung davon, was sie schreiben, und merken es nicht mal, wenn sie mit ihren Vergewaltigungs-Liebesgeschichten reale Opfer verhöhnen. Wie erklärt man jemandem, der sich eigentlich nichts Böses bei seiner Geschichte gedacht hat, dass sein Umgang mit Gewalt unsensibel ist? Manchmal habe ich den Eindruck, dass man bei vielen Autoren, die über vergewaltigte Protagonistinnen schreiben, die bei ihrem Peiniger bleiben, weil er ja so "heiß" ist, ebenso gut mit einer Wand sprechen könnte. Ich denke, um über Gewalt zu schreiben, braucht man ein Mindestmaß an geistiger Reife, Empathie und Verantwortungsgefühl - und das ist nicht einmal bei allen Erwachsenen anzutreffen, während hierzulande aber praktisch jeder noch so infantile Graphomane eine Tastatur und Internetzugang hat. Wobei das nicht halb so tragisch wäre, wenn es zumindest in Büchern (die immerhin auch noch von einem Lektor geprüft werden) keinen unsensiblen Umgang mit Gewalt gäbe.
    Von daher: Danke für diesen Artikel! Je mehr Menschen ihn lesen und/oder selbst Sinnvolles zu dem Thema schreiben, desto größer die Chancen, jemanden aus der Vergewaltigungsromanze-Fraktion zu erreichen.

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