Aber so richtig interessant wird das andere Lesen als Schriftsteller, sobald man einen Klassiker liest. Ich persönlich liebe ja Klassiker und lese sie auch in meiner Freizeit gern, für andere Menschen handelt es sich dabei jedoch eher um die verhasste Pflichtlektüre aus Schule und Universität.
Und so konnte ich nicht widerstehen, als unter den kostenlosen Kindle-Klassikern sich auch Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ befunden hat. Da ich in der Schule das Vergnügen noch nicht hatte, siegte die Neugier und ich klickte auf „Kaufen“.
Nun ist es aber gerade mit Klassikern im Allgemeinen und beliebter Schullektüre im Besonderen so eine Sache – jeder weiß im Grunde genommen längst, wie die Geschichte ausgeht, auch ohne sie jemals selbst gelesen zu haben. So ging es mir auch mit „Werther“ – ich wusste von Anfang an, dass es irgendwann damit endet, dass er (Achtung, Spoileralarm!) sich umbringt.
Der Weg wird zum Ziel
Auch wenn es vielen heutigen Lesern – und im Fall von Verfilmungen auch Zuschauern – wichtig ist, nicht im Voraus gespoilert zu werden, ist es inzwischen wissenschaftlich erwiesen, dass Spoiler nicht unbedingt die Freude an einer Geschichte nehmen. Kennt man von Anfang an den Ausgang einer Geschichte, kann dies das Lesevergnügen sogar steigern – das Hirn ist nicht damit beschäftigt, permanent im Hintergrund an Hypothesen zum Ausgang der Geschichte zu knobeln.Diesen Effekt kann man als Autor ausnutzen, um dazuzulernen. Denn wenn man ohnehin weiß, wie es ausgeht, kann man sich darin vertiefen, den Weg dorthin zu erkunden.
Die Hinweise, die uns Goethe gibt
Goethe verwendet mehrschichtige Hinweisketten, um den Leser auf die Grundsituation einzustimmen und das Ende des Buches vorausdeutend vorzubereiten.- Das Wetter
- Die von Werther rezipierte Literatur
- Die Pistolen und Werthers Umgang damit
Auch im weiteren Verlauf des Romans wechselt das Wetter von heiter und sonnig zu düster und bedrohlich.
Der zweite Punkt ist die Literatur. Werthers verhängnisvolles Gefühl, in Lotte eine Seelenverwandte zu haben, äußert sich zum ersten Mal während des oben erwähnten Gewitters, das beide an das gleiche Gedicht erinnert.
Später ist der Umschwung in Werthers Laune daran ablesbar, welche Werke er übersetzt.
So will er anfangs ausschließlich Homers "Odyssee" lesen. Genauer gesagt, liest er ausschließlich die fröhlichen Endgesänge, wie etwa die Szene, als Odysseus beim Schweinehirten einkehrt. Er schleppt das Buch immer mit sich herum und liest es dann, wenn er allein ist und es ihm gut geht.
Später jedoch übersetzt er Ossian - für Lotte. Von den schwärmerischen Versen und deren Traurigkeit umfangen, küssen sie sich, ehe Lotte sich von ihm losreißt und sich einschließt. Dies ist für Werther der Punkt, an dem er beschließt, sich das Leben zu nehmen.
Bezeichnenderweise ist seine letzte Lektüre "Emilia Galotti" - die Geschichte einer Frau, die eher in den Freitod geht, als entehrt zu sein. Werther geht in den Tod, um Lotte nicht zu entehren.
Am Auffälligsten ist jedoch Werthers Umgang mit Alberts Pistolen. Der russische Dichter Tschechow sagte einst, dass in einer Erzählung nichts etwas verloren hat, was für selbige Erzählung keine Rolle spielt, und wählte als Beispiel ein an der Wand hängendes Gewehr – entweder es schießt oder es hat nichts an der Wand zu suchen. Damit prägte er den Namen des dramaturgischen Prinzips "Chekhov's gun".
Mit Alberts Pistolen tritt ein solches Element zwei Jahrhunderte vorher bereits zu Tage. Während eines Gesprächs über Selbstmord und Melancholie greift sich Werther Alberts zwei Pistolen und tut im Scherz so, als würde er sich damit erschießen. Es sind dieselben Pistolen, die er sich unter einem Vorwand von Albert ausleiht, um seinen Selbstmord zu vollziehen.
Was lernen wir daraus?
Neben anderen Faktoren schafft es Goethe, mit Hilfe von drei Hauptstützpfeilern in seiner Geschichte gleichzeitig Spannung zu erzeugen und den Leser sehr clever auf das kommende Geschehen vorzubereiten.Dadurch, dass der Leser in Andeutungen bereits erfährt, was ihn erwartet, steigt die Plausibilität des Romans, man fühlt mit Werther stärker mit – denn man ahnt, dass es böse enden wird.
Nur in wenigen Romanen kann man dabei die Taktiken und Techniken der Vorausdeutung so transparent nachweisen wie in Goethes "Werther". Es lohnt sich also durchaus, den Roman als Autor zu lesen, um daraus einige grundlegende Techniken abzukupfern.
(Mir persönlich hat er außerdem sehr gut gefallen und war locker-leicht geschrieben, aber das ist Geschmackssache und vielen Lesern wird der Deutschunterricht die Freude am "Werther" für immer zerstört haben.)
Eine kleine Übung.
Es muss nicht zwingend Werther sein. Nehmt euch einen beliebigen Klassiker zur Hand – oder ein beliebiges anderes Buch, dessen Ende ihr bereits kennt. Sei es, weil es inzwischen allseits bekannt ist, sei es, weil ihr das Buch schon ein oder mehrmals gelesen habt.
Welche Erzähltechniken zur Vorausdeutung findet ihr? Welche anderen Erzähltechniken hat der Autor angewendet?
Allein die Erzähltechnik eines anderen Autors zu erkennen, bedeutet, ähnliche Techniken beim eigenen Schreiben unbewusst stärker anzuwenden. Ganz ohne Abkupfergefahr.
Viel Erfolg!
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