Sonntag, 1. Januar 2017

Des Kaisers neue Kleider. Oder: Muss ich das verstehen?

Die Schreibmeer-Kolumne. Einmal im Monat dürfen unsere Autoren unter diesem Deckmantel aus den Tiefen des Schreibmeers blubbern.


Vor geraumer Zeit war ich auf einer Autorenlesung. Ich will keine Namen nennen, aber es war eine äußerst hochkarätige Persönlichkeit, sogar mit dem Nobelpreis geadelt. Natürlich wollte ich diese Lesung nicht verpassen.



Ebenso hochkarätig war auch das Publikum: In der Reihe vor mir saß ein namhafter Schauspieler, natürlich tummelte sich auch die örtliche Kunstprominenz im Raum. Dann erschien der Künstler.

Und trug leider nicht aus den preisgekrönten Romanen vor, sondern Lyrik. Abstrakte Lyrik. Oha.

Nun gut, man lauschte und lauschte. Von Gedicht zu Gedicht (ich fühlte mich an den legendären „taubtrüben Ginst am Musenhain“ erinnert) schwand meine Begeisterung. Nicht nur meine, auch der Schauspieler in der ersten Reihe sank merklich in sich zusammen und begann offensichtlich, auf seinem Programmzettel ebenso abstrakte Kunstwerke zu verewigen.

Ich blickte mich verstohlen um. Offenbar waren der Schauspieler, meine Begleitung und ich die einzigen Kunstbanausen voller Fragezeichen in den Augen. Allgemein hing man an den Lippen des Nobelpreisträgers. Man raunte, wenn etwas besonders gewichtig schien, man kicherte verhalten, wenn etwas irgendwie witzig klang.

In eine Kunstpause hinein, in der wohl niemand so genau wusste, ob nun zu raunen oder zu kichern sei, wagte ich die Probe auf’s Exempel. Ich kicherte einfach mal los, meine Begleitung unterstützte mich tatkräftig. Einige Momente darauf kicherte der ganze Saal. Der Schauspieler in der ersten Reihe drehte sich erstaunt um.

Szenenwechsel (wobei ich die folgende Szene nicht selbst erlebt, nur selbst erzählt bekommen habe, aber sei es drum). Eine Ausstellung über abstrakte Kunst. Ein Studienseminar wälzte sich unter Anleitung des Profs durch die Räume. Eine junge Mutter hatte ihr Kind dabei, das im Buggy quengelte. Sie nahm es auf den Arm und stellte den Buggy in einer Ecke ab. Der Prof nahm Stift und Zettel und stellte ein Schildchen auf den Buggy: „Bitte nicht berühren!“ Einige Momente später sammelte sich eine Traube von Kennern um den ollen Buggy und diskutierte das mutige Kunstwerk.

So weit, so gut. Nette Anekdötchen, nicht wahr? Aber was hat das mit Büchern zu tun? Man mag mich jetzt mit Bleilettern totschlagen, aber ich habe sehr oft folgenden Eindruck: Je unverständlicher und verschwurbelter ein Buch ist, umso höher wird es gelobt. Das ist meine subjektive Beobachtung, nicht mehr. Ich lese mich so ein bisschen durch die Shortlist, schaue mir verschiedene Preisträger an und frage mich so oft: Was zum Kuckuck soll das? Und wieso schreiben die Feuilletons Besprechungen, die mir genauso unverständlich und verschwurbelt sind? Trauen die sich alle einfach nicht, zu sagen: „Das Buch sagt mir nichts“? Wie die Leute aus dem Andersen-Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, die einfach nur die „neuen“, in Wahrheit gar nicht existenten Kleider bejubeln, um nicht als dumm zu gelten? Oder bin ich vielleicht in der Tat einfach nur dumm?

Ich kann es nicht beantworten. Aber ich habe in diversen Diskussionsrunden und Buchzirkeln eine Erfahrung gemacht. Wenn ich klipp und klar sage: „Dieses Buch gibt mir nichts, ich verstehe es nicht und kann die guten Besprechungen nicht nachvollziehen.“ – das darf ich nicht nur mit Fug und Recht, mehr noch. Es finden sich unter Garantie noch ein oder zwei Lesewütige, die das verschämt ebenso zugeben.

Also kann man doch einfach mal den Mut haben, zu seinen Eindrücken über die Kunst – egal, ob Literatur, Musik, Malerei oder Ausdruckstanz – zu stehen. Denn auch das ist ein Sinn von Kunst. Wenn man sich eingesteht, damit nichts anfangen zu können und dies auch kommuniziert, kommt zwangsläufig ein Dialog zustande. Und das ist es, was Kunst auch soll: Menschen bewegen und zum Dialog bringen.


Die Schreibmeer-Kolumne. Einmal im Monat dürfen unsere Autoren unter diesem Deckmantel aus den Tiefen des Schreibmeers blubbern.

3 Kommentare:

  1. Ich sage nur: "...HURZ!" :D

    Aber was die Feulletons angeht, ich gehe davon aus dass dort schreibende Literaturkritiker recht belesen sind, und einfach mehr Referenzbücher und -Stile haben, so dass sie letztendlich zu allem etwas sinnvoll vergleichendes oder eine Beobachtung schreiben können. Das man deshelb geschwurbel nicht loben muss, ist natürlich richtig.

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  2. Das Problem dabei scheint mir genau der Punkt zu sein: "Nicht-Verstehen" wird allzu schnell mit einem "Zu dumm, um zu verstehen" gleich gesetzt.
    Und wer möchte schon als dumm gelten. Also hält man sich lieber bedeckt und das ist, wie du genau sagst, sehr schade, da Kunst auch Dialoge und Austausch in Gang setzen soll.
    Dann würde so mancher nämlich auch plötzlich "verstehen". Weil es eigentlich kaum, vielleicht nie damit zu tun hat, dass man zu dumm ist, wenn man irgendetwas nicht versteht, weil
    1) allein schon der Begriff Kunst und Kreativität unterschiedlich (breit) ausgelegt wird.
    Das führt dann dazu, dass manche bereitwillig alles Experimentelle als kreativ und damit als Kunst bezeichnen möchten, was anderen einfach nur sinnfrei und "dumm" vorkommt, weil sie an Kunst andere Ansprüche stellen. Denn genau dort kommt man an die Grenze, ob ein "kreativ" in die Ecke gestellter Buggy schon Kunst ist. Die einen tippen sich an die Stirn, andere wollen auch dafür erst mal offen sein und finden womöglich noch eine Harmonie mit der Tapete, Gardine oder gar einen Fleck an der Wand.
    Man könnte Letzteres vielleicht auch als "kreative Betrachtung" einer banalen Situation bezeichnen, wobei die Kunst dann im wahrsten Sinne des Wortes im Auge des Betrachters läge.
    Schön wenn man darüber wertfrei sprechen kann.
    2) viele genau mit diesem grenzwertigen "Kunstvorstellungen" spielen.
    Weil sie mit viel Freude aus dieser Grenze zwischen Kunst und Veräppelung ganz eigene - mal mehr mal weniger kreative - Werke und Situationen entstehen lassen. Weil es (ihnen) Spaß macht, mit der Verunsicherung der Leute zu spielen. Manchmal geschieht dies auch aus dem Wunsch heraus, die Leute genau zu diesem Dialog zu bewegen. Soll doch mal einer sagen, dass er das doof findet. Denn dann finden sich schnell noch mehr, die das ebenfalls so sehen und plötzlich fühlen sich mal die dumm, die das Werk zuvor in den höchsten Tönen gelobt haben.
    Aber dumm ist eigentlich nur, wer "fremdgesteuert" beurteilt, einer vermeintlichen Mehrheit das Wort redet und nicht das wahrnimmt, was Kunst will: Das berührte Innere in einem selbst. Das was dieses Werk mit einem selbst macht. Bringt es mich zum Nachdenken, zum Träumen? Kann es irgendwelche Gefühle auslösen, vielleicht ganz tief berühren?

    Fortsetzung unten ...

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  3. Fortsetzung:

    weil ...
    3) Kunstwerke nicht (nur) mit dem Kopf verstanden werden müssen, sondern (auch) mit unserem Herzen, unsere Seele.
    Und das ist auch situationsabhängig, weshalb uns manche Kunstwerke - egal ob Musik, Literatur oder Malerei - mal anspricht und mal nicht. Und manches spricht uns nie an. Andere aber doch.
    Wenn wir manchmal etwas nicht verstehen, was andere loben, kann es viel damit zu tun haben, dass wir einfach anders gestrickt sind. Dass wir (zur Zeit) lebenslustig, positiv und bodenständig in die Welt schauen, während der andere sich gerade in einer sehr belastenden Situation befindet, die ihn auf die kleinste Anregung, den geringsten Reiz ansprechen lässt. Der sieht, hört, versteht dann vermutlich etwas ganz anderes als wir, womöglich noch vermischt mit Erinnerungen, wird von etwas berührt, das mit uns nichts zu tun hat.
    Oder eben auch ganz umgekehrt. Wir können uns dann nicht an etwas "Dummen" erfreuen, weil wir die Welt gerade mit sehr ernsten Augen betrachten. Man kennt das. Manchmal kann man in alberne Situationen hineingeraten und sich daran freuen und das andere Mal genervt davonrennen.
    4) wir uns eine bestimmte Kunstrichtung manchmal auch erst vertraut machen müssen, um sie zu verstehen und zu mögen. Wobei "müssen" eben nicht ein wirkliches Muss ist. Wer mit abstrakter Malerei nichts anfangen kann, darf es ja auch bleiben lassen. Wenn andere ein Gemisch aus Farben aber toll finden, dann eben vielleicht doch deshalb, weil sie etwas darin erkennen. Weil sie sich "eingesehen" haben. Kunst ist eben doch manchmal auch tiefschichtiger und verbirgt die tieferen Schichten erst, wenn man sich damit länger auseinander gesetzt hat.
    Dabei können - wenn denn ein Dialog auf gegenseitigem Respekt zustande käme - solche, die etwas genießen und loben, einem anderen durchaus "helfen", ein Werk mal mit ihren Augen zu betrachten. Denn auch das kennen wir. Manchmal muss man nur den Blickwinkel ändern und plötzlich offenbart sich etwas Neues, Schönes. Oder aber eben auch die Erkenntnis: "Das ist einfach nichts meins!"
    Auf Basis, den jeweils "Dummen" entlarven zu wollen, kann aber schlecht ein Dialog auf Augenhöhe stattfinden.
    5) es manchmal eben auch wirklich nicht zu verstehen ist. Für niemanden, außer vielleicht dem "Künstler", sondern alle Opfer ihrer eigenen Unsicherheit geworden sind, weil etwas, das so skurril, dumm oder sinnlos erscheint, eben doch Kunst sein muss, sonst würde der Künstler es schließlich nicht präsentieren - und alle anderen es loben.
    Doch, das würde er. Denn wir leben in einer Zeit, in der jeder alles und jedes präsentieren kann und oft eben auch will. Wo die einzige Motivation die ist, sich mit allen Mitteln zu zeigen und wo es leider eben oftmals keinen (ehrlichen) und vor allem respektvollen Dialog mehr darüber gibt, was, warum Kunst und Kreativität ist. Wo Schrilles bejubelt wird, nur weil es schrill ist.
    Und vor lauter Jubel über nichts sagender Schrillheit wird dann womöglich die kleine Perle übersehen, die sich darin doch befindet.

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