Sie arbeiten als Forensiker und üben in ihrer Freizeit Selbstjustiz. Sie sind analphabetische Auftragskiller. Sie erpressen und kontrollieren ohne mit der Wimper zu zucken ihren besten Freund. Sie sind ehemalige Todesser, die ihr Leben für den Sohn ihrer einzig wahren Liebe opfern. Sie planen gemeinsam mit ihrer Diebesbande den Sturz eines ewigen Herrschers. Sie sind galaktische Schwerverbrecher. Sie sind drogenabhängige, soziopathische Privatdetektive, die Verbrecher für den persönlichen Kick jagen. Sie sind von Experimenten entstellte Mutanten auf einem Rachefeldzug. Sie stehlen die Identität ihres Bruders, um einen Krieg zu beenden und leben fortan eine Lüge. Sie sind an nichts außer Rache an ihrem Ex-Geliebten interessiert, nachdem sie jahrelang im Koma lagen. Sie sind Meth produzierende Chemielehrer. Sie werden von der Gesellschaft unterdrückt und gedemütigt und dienen als Versuchsobjekte. Sie sind Bankräuber, hochintelligente magisch begabte Erben einer Verbrecherdynastie, krebskranke Dämonenjäger, egozentrische Ex-Chirurgen oder Schmuggler auf der Flucht vor dem Imperium.
Dexter Morgan. Léon. Akkarin. Severus Snape. Kelsier. Riddick. Sherlock Holmes. Deadpool. Dazen Guile. Black Mamba. Walter White. Woyzeck. Snake Plissken, Artemis Foul. John Constantine. Dr. Strange. Han Solo.
Sie tun üble Dinge, sind skrupellos und denken häufig nur an sich selbst. Und doch lieben wir sie. Weil sie moralische Grundsätze haben („keine Kinder, keine Frauen“). Weil sie trotz ihrer inneren Bitterkeit das Einzige beschützen, was ihnen von ihrer großen Liebe geblieben ist. Weil sie den gestrandeten Passagieren eines Raumschiffs helfen, von einem Planeten voller Monster zu entkommen. Weil sie ihre dunklen Seiten einsetzen, um Verbrecher zu schnappen, Präsidenten zu retten, ihr Land zu schützen oder die Welt vor etwas zu bewahren, das noch böser ist als sie selbst. Weil sie Opfer ihres Systems sind oder Rache für den Tod der großen Liebe wollen. Weil sie damit etwas an sich haben, das sie in höchstem Sinne zu Identifikationsfiguren mit unseren eigenen Schwächen und Abgründen macht.
Antihelden sind eine ganz besonders faszinierende Spezies von Charakter. Häufig als Protagonisten einer Geschichte, unterscheiden sie sich vom strahlenden Helden, der mutig und aus tiefstem Herzen für das Gute kämpft. Sie sind kein Ideal zum Nacheifern und eignen sich ganz sicher nicht zum Eskapismus in Wunschträume – sie halten uns einen Spiegel vor. Sie zeigen uns unsere eigenen dunklen Seiten und bringen uns dazu, moralische Grundsätze zu hinterfragen.
Merkmale
Im Gegensatz zum klassischen Helden sind Antihelden vielschichtige Charaktere, die sich in einer moralischen Grauzone bewegen. Es mangelt ihnen an den typischen heroischen Eigenschaften wie Tugendhaftigkeit, moralische Stärke, Altruismus, Tapferkeit, Ehrlichkeit oder dem Willen, gut zu sein. Einige neigen zu Grausamkeit und Skrupellosigkeit, andere wie Dexter Morgan, Kelsier oder Sherlock Holmes sind Psycho- oder Soziopathen. Und wieder andere frönen exzessiven Lastern. Sie mögen anderen helfen und Gutes bewirken und doch stehen ihre eignen Ziele, das Retten ihrer eigenen Haut häufig im Vordergrund. Und genau das macht sie so menschlich und liebenswert.
Kein klassischer Held mit Schwächen und auch kein Antagonist
Anders als der klassische Held, der eine Schwäche überwinden muss, um die Welt zu retten, sind die Schwächen und Fehler des Antihelden das, was seine eigentliche Stärke ausmacht. Charakterschwächen und eine abweichende Moral werden eingesetzt, um widerwillig oder aus Überzeugung ein Ziel zu erreichen, das sie für gut erachten. Dabei verstoßen sie gegen das Gesetz, übertreten gesellschaftlich anerkannte Grenzen und haben nicht unbedingt immer die edelsten Motive. Obwohl er in einem anderen Kontext damit als Antagonist fungieren könnte, zumal die Grenzen zwischen beiden Charaktertypen häufig verwischen, unterscheidet sich der Antiheld vom Antagonisten, der als Gegenspieler des Protagonisten definiert ist. Der Antiheld ist der Held seiner Geschichte mit dem Unterschied, dass er nicht über die Tugendhaftigkeit und (annähernde) Perfektion des klassischen Helden verfügt. Und er hat einen Gegenspieler, den er mit seinen nicht-tugendhaften, moralisch-verwerflichen Methoden bekämpft – den Antagonisten, der wiederum eine Einzelperson, eine Personengruppe oder ein System ist.
Der Antiheld ist übrigens auch kein tugendhafter Held, der vorübergehend vom Bösen verführt oder geblendet wurde und schließlich widersteht und auf den rechten Weg zurückfindet.
Der Antiheld ist übrigens auch kein tugendhafter Held, der vorübergehend vom Bösen verführt oder geblendet wurde und schließlich widersteht und auf den rechten Weg zurückfindet.
Der Antiheld als Gesellschaftskritik
Der Antiheld ist ein Produkt von Moderne und gesellschaftlichen Widersprüchen. Statt eine ultimative Lösung für das Bezwingen des Bösen zu bieten, wie es ein klassischer Held tut, rebelliert er gegen ein übermächtiges System bzw. sieht sich diesem hilflos ausgeliefert. Häufig leidet er unter dem System, weil er nicht dessen Anforderungen entspricht und damit zum Außenseiter wird und/oder in die Isolation getrieben wird. Damit nimmt er eine kritische, manchmal auch satirische bis tragisch-komische Haltung gegenüber einer bestehenden Gesellschaft ein. So müsste ein Walter White kein Meth produzieren, wenn es in den USA ein gescheites Gesundheitssystem gäbe. Und genau damit triggert ein Antiheld Verständnis und eine Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen und moralischen Themen, während er zugleich ein immenses Identifikationspotential für seine Generation bietet.
Seine Ursprünge hat der Antiheld im auslaufenden 18. Jahrhundert, als der Konflikt von Industrialisierung, Fortschritt in Wissenschaft, Philosophie und dem damit verbundenen Wandel von Staat und Gesellschaft mit dem Individuum zum Thema wurde. Frühe Antihelden des 19. Jahrhunderts waren Goethes Werther oder Georg Büchners Woyzeck, die von den Konventionen ihrer Gesellschaft und den damit an sie gestellten Anforderungen unterdrückt werden. Sie sind physisch, psychisch und gesellschaftlich benachteiligt und werden damit in die Isolation getrieben. Sie sind passiv, weil sie anstatt selbst zu agieren, zum Spielball anderer werden. Woyzeck ist ein hervorragendes Beispiel für den Leidensdruck, der durch die für seine Epoche typische Überpsychologisierung entstanden ist. Woyzeck ermordet schließlich seine Geliebte Marie, wobei hier weniger ihre Untreue das ultimative Motiv ist, sondern seine Ohnmacht gegenüber der Herablassung und Unterdrückung seiner Mitmenschen.
Mit dem Wandel der Gesellschaft wandelte sich auch das Bild des Antihelden. Ihre Grundhaltung gegenüber ihrem Gegner bleibt jedoch erhalten.
Antihelden sind nicht nur spannend zu lesen oder auf der Leinwand anzuschauen. Sie sind auch spannend zu schreiben. Ganz besonders, wenn man eine Vorliebe für menschliche Abgründe und das Philosophieren über moralische Grundsatzfragen hat oder im Herzen selbst ein Rebell ist. Ihre Skrupellosigkeit wirft unter anderem Fragen auf wie, wie viel Böses ein Antiheld tun „darf“ um bei seinen Fans nicht in Ungnade zu fallen. Hier schadet es nicht, menschliche Seiten einzubringen, wie z.B. eine tragische Vorgeschichte, die Fähigkeit zu lieben, die Neigung zur Selbstgeißelung, wenn er seine eigenen Grundsätze überschritten hat. Mit diesen schafft man einen Gegensatz zu seinen „bösen“ Seiten und ermöglicht es den Lesern, ihm zu verzeihen und Verständnis für seine Situation aufzubringen. Schließlich soll ein Antiheld polarisieren und zum Nachdenken anregen.
Trotzdem ist das Schreiben eines Antihelden auch immer eine Gratwanderung. Wo für den Autor der Antiheld noch liebenswert sein mag, ist bei manchen Lesern die Grenze vielleicht schon lange überschritten. Daher ist es wichtig, beim Schreiben immer kritisch hinterfragen, ob man einen solchen Charakter noch lieben kann und seinen inneren Zwiespalt glaubhaft darzustellen. Denn im eigenen Bestreben, den eigenen Charakter möglichst „badass“ wirken zu lassen, neigt man manchmal zur rosaroten Brille. Mit diesem Grundsatz wird man selbstverständlich nicht alle Leser halten, aber was man selbst in all seinen Facetten liebt, kann man zugleich am glaubhaftesten verkaufen.
So sehr der Antiheld mein Lieblingscharaktertyp ist, so finde ich auch hin und wieder einen Captain America, einen Aragorn oder eine Wonder Woman erfrischend, um mich von dem mit Antihelden unweigerlich verbundenen Seelentrip und Fragen von Moral und Grenzüberschreitung zu erholen.
Seine Ursprünge hat der Antiheld im auslaufenden 18. Jahrhundert, als der Konflikt von Industrialisierung, Fortschritt in Wissenschaft, Philosophie und dem damit verbundenen Wandel von Staat und Gesellschaft mit dem Individuum zum Thema wurde. Frühe Antihelden des 19. Jahrhunderts waren Goethes Werther oder Georg Büchners Woyzeck, die von den Konventionen ihrer Gesellschaft und den damit an sie gestellten Anforderungen unterdrückt werden. Sie sind physisch, psychisch und gesellschaftlich benachteiligt und werden damit in die Isolation getrieben. Sie sind passiv, weil sie anstatt selbst zu agieren, zum Spielball anderer werden. Woyzeck ist ein hervorragendes Beispiel für den Leidensdruck, der durch die für seine Epoche typische Überpsychologisierung entstanden ist. Woyzeck ermordet schließlich seine Geliebte Marie, wobei hier weniger ihre Untreue das ultimative Motiv ist, sondern seine Ohnmacht gegenüber der Herablassung und Unterdrückung seiner Mitmenschen.
Mit dem Wandel der Gesellschaft wandelte sich auch das Bild des Antihelden. Ihre Grundhaltung gegenüber ihrem Gegner bleibt jedoch erhalten.
Antihelden sind nicht nur spannend zu lesen oder auf der Leinwand anzuschauen. Sie sind auch spannend zu schreiben. Ganz besonders, wenn man eine Vorliebe für menschliche Abgründe und das Philosophieren über moralische Grundsatzfragen hat oder im Herzen selbst ein Rebell ist. Ihre Skrupellosigkeit wirft unter anderem Fragen auf wie, wie viel Böses ein Antiheld tun „darf“ um bei seinen Fans nicht in Ungnade zu fallen. Hier schadet es nicht, menschliche Seiten einzubringen, wie z.B. eine tragische Vorgeschichte, die Fähigkeit zu lieben, die Neigung zur Selbstgeißelung, wenn er seine eigenen Grundsätze überschritten hat. Mit diesen schafft man einen Gegensatz zu seinen „bösen“ Seiten und ermöglicht es den Lesern, ihm zu verzeihen und Verständnis für seine Situation aufzubringen. Schließlich soll ein Antiheld polarisieren und zum Nachdenken anregen.
Trotzdem ist das Schreiben eines Antihelden auch immer eine Gratwanderung. Wo für den Autor der Antiheld noch liebenswert sein mag, ist bei manchen Lesern die Grenze vielleicht schon lange überschritten. Daher ist es wichtig, beim Schreiben immer kritisch hinterfragen, ob man einen solchen Charakter noch lieben kann und seinen inneren Zwiespalt glaubhaft darzustellen. Denn im eigenen Bestreben, den eigenen Charakter möglichst „badass“ wirken zu lassen, neigt man manchmal zur rosaroten Brille. Mit diesem Grundsatz wird man selbstverständlich nicht alle Leser halten, aber was man selbst in all seinen Facetten liebt, kann man zugleich am glaubhaftesten verkaufen.
So sehr der Antiheld mein Lieblingscharaktertyp ist, so finde ich auch hin und wieder einen Captain America, einen Aragorn oder eine Wonder Woman erfrischend, um mich von dem mit Antihelden unweigerlich verbundenen Seelentrip und Fragen von Moral und Grenzüberschreitung zu erholen.
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Zum Weiterlesen:
- Philosophie und das Schreiben – Charaktere
- Welches Konfliktpotenzial steht zwischen deinen Charakteren?
- Protagonist vs. PoV
Sonea schreibt Fanfictions auf Fanfiktion.de und bloggt übers Schreiben und ihre Projekte auf Tales From Kyralia.
Eigentlich beschreibst du hier keinen Antihelden, sondern den ambivalenten Helden, stellenweise den Underdog oder Außenseiter. Der Antiheld zeichnet sich dadurch aus, dass er sich der Aufgabe verweigert, also passiv bleibt. Ich stimme dir aber unbedingt zu, dass die Helden, die du hier darstellst, eine ganz besondere Faszination ausüben!
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