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Samstag, 26. November 2016

Warum Charaktere sich auch mal unlogisch verhalten dürfen (und wann sie es nicht sollten)

Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich jemanden darüber habe klagen hören, dass sich die Figuren in einem Buch oder Film unlogisch oder irrational verhalten. Es gibt Fälle, in denen dieser Unmut berechtigt ist und zu denen ich am Ende dieses Artikels noch etwas sagen werde. Doch es gibt mindestens ebenso viele Fälle, in denen der Autor damit eine bestimmte Absicht verfolgt oder das scheinbar unlogische Verhalten auf den zweiten oder dritten Blick deutlich wird.

In diesem Artikel möchte ich zum einen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass unlogisches Verhalten nicht immer so unlogisch ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Und ich möchte euch dazu anregen, eure Charaktere hin und wieder unlogisch handeln zu lassen, um sie facettenreicher zu gestalten und die Geschichte spannend zu halten. Denn wer liest schon gerne einen Roman mit perfekten Figuren, die sich immer logisch und nach gesundem Menschenverstand verhalten?





Unlogisch sein ist menschlich

Zu einer guten Geschichte gehört es dazu, dass sich die Figuren in gewissen Situationen unlogisch oder irrational verhalten. Es regt den Leser zum Nachdenken an („Warum tut der das?“ „Hat sein Verhalten Gründe, die wir noch erfahren?“ „Birgt er vielleicht ein finsteres Geheimnis?“) und bringt ihn dazu, über die Handlung zu reflektieren. Im Idealfall fängt der Leser sogar an, über sich selbst zu reflektieren, weil er das Verhalten der Figur mit einer ihm bekannten Situation verknüpfen kann.

Würden wir immer alles haarklein erklären und dem Leser vorkauen, würden wir ihn damit nicht nur um diese Möglichkeit bringen, sondern ihm implizit auch die Fähigkeit zu denken absprechen. Mir machen subtile Andeutungen, die den Leser rätseln lassen oder in die Irre führen, jedenfalls sehr viel Spaß.

Charaktere sind auch nur Menschen. Und wie echte, lebende und atmende Menschen verhalten sie sich nicht immer gemäß des gesunden Menschenverstandes. Unser Verstand setzt in emotional belastenden und überfordernden Situationen wie Stress, Angst, Panik, Trauer gerne einmal aus. Doch auch starke positive Gefühle sind ebenso dazu in der Lage, unseren Verstand vorübergehend aus dem Konzept zu bringen.

Und genau das gilt für Romanfiguren. Versetzt ihr eure Figuren in Panik, kann das dazu führen, dass sie Fehlentscheidungen treffen oder unüberlegt handeln. Allerdings müsst ihr eure Figuren gut genug kennen, um sie die ’richtigen’ Fehlentscheidungen treffen zu lassen.

Wenn ihr euren Charakter für den Leser irrational oder out-of-character handeln lasst, dann überlegt euch gut, warum er das tut und welche Konsequenzen sich daraus für die weitere Handlung ergeben. Sein ’Fehlverhalten’ muss sich aus dem erklären lassen, was ihr als der Schöpfer des Charakters über diesen wissen müsst, selbst wenn die Leser diese Details nie erfahren. Verhält er sich in einer Szene seltsam und dieses Verhalten kann nicht mit dem Rest der Handlung oder seiner persönlichen Geschichte ein Einklang gebracht werden, so werden eure Leser diese Inkonsistenz erkennen und bemängeln.

Ein kleines Beispiel: Euer Charakter streitet sich mit seinem Freund. Dieser Streit darf nicht aus heiterem Himmel kommen, denn sonst empfindet der Leser ihn als künstlich erzeugtes Drama. Zwischen den beiden muss ein Konflikt bestehen, der noch nicht gelöst ist oder sich nicht in der Auflösung befindet. Andernfalls müsst ihr begründen, wie es zu diesem Streit kam, oder warum ein eigentlich gelöstes Thema plötzlich wieder auf den Tisch kommt. Und in der nächsten Szene solltet ihr auf diesen Streit, sofern sie sich nicht wieder vertragen haben, Bezug nehmen. In jedem Fall sollte das bei der nächsten Begegnung folgende Verhalten der beiden mit dem Streit in Zusammenhang stehen.

Dass das Verhalten eurer Figuren in manchen Situationen auf den ersten Blick keinen Sinn ergibt, bedeutet also nicht, dass sie alles dürfen. Es muss realistisch bleiben, zu ihrer Persönlichkeit und Geschichte passen und auf den zweiten oder spätestens dritten Blick erklärbar sein. Andernfalls wird der Leser die Figuren als out-of-character empfinden und die Handlung als überzogenes Drama.


Warum unlogisches Verhalten von Vorteil sein kann


Mit den ’richtigen’ Fehlentscheidungen könnt ihr große Emotionen in den Lesern hervorrufen. Lasst sie über horrende Ungerechtigkeiten fluchen, das unweigerlich folgende Drama zitternd erwarten oder eine plötzliche Wendung betrauern. Wichtig ist, dass ihr die Schritte, die zu dieser Fehlentscheidung führten, gut begründet oder im weiteren Verlauf der Geschichte enthüllt. Aber lasst dabei etwas Denkarbeit für den Leser übrig. Gebt ihm genau so viele Informationen, dass er spätestens am Ende des Buches von selbst auf die Lösung kommen kann.
Unlogisches Verhalten kann, gekonnt inszeniert und eingesetzt an den richtigen Stellen, einer Geschichte eine neue Wendung geben und den Spannungsbogen vergrößern. Es kann neue Ereignisse ins Rollen bringen oder der Handlung mehr Tempo verleihen.

Um euch zu verdeutlichen, was ich damit meine, möchte ich euch an einem kleinen Beispiel aus ’The Black Magician Trilogy’ von Trudi Canavan näherbringen – einer Buchreihe, die ich inzwischen mindestens zehnmal gelesen habe und dementsprechend gut kenne.

Im dritten Teil ’The High Lord’ erfährt die Gilde, dass Akkarin, ihr Anführer, schwarze Magie praktiziert. Diese ist verboten und gilt als ’böse’. Über diese Entdeckung gerät die kleine und beschauliche Welt der konservativen Gildenmagier ins Wanken und sie geraten so sehr in Panik, dass sie Akkarins Erklärungen nicht glauben und ihn ins Exil schicken. Und genau damit beschwören sie das Unheil herauf, das er durch sein heimliches Tun über Jahre verhindert hat. Logisches und rationales Verhalten wäre es an dieser Stelle, seine Behauptungen zunächst zu überprüfen und ihn unter Arrest zu stellen, bevor sie das Urteil fällen. Doch das widerspricht dem Konzept der konservativen und engstirnigen Gildenmagier, die sich vor allem fürchten, was sie nicht kennen. Statt von Logik und gesundem Menschenverstand ist ihr Handeln von Furcht und Enttäuschung getrieben. Und so widersinnig es scheinen mag: Damit handeln sie genau so, wie es ihrem Charakter entspricht, ihr ’unlogisches’ Verhalten ist im Kontext der Geschichte absolut folgerichtig – egal, wie falsch oder unlogisch es dem Leser erscheinen mag. Jede andere Handlungsweise würde ihre Rolle ad absurdum führen.

Und damit erzielt Canavan einen Wahnsinnseffekt: Der Leser, der bereits die Wahrheit über Akkarin kennt, ist außer sich und ahnt schon, dass die Gilde sich damit in ihr eigenes Unheil stürzt. Die Spannung steigt und die Geschichte erhält eine völlig neue Wendung, die dafür sorgt, dass der Leser sich fragt, wann und wie dieses Unheil nun eintrifft, und ob es überhaupt noch eine Möglichkeit gibt, es abzuwenden, ohne dass die gesamte Gilde dem Erdboden gleichgemacht wird und Charaktere sterben, die man in Laufe der Reihe liebgewonnen hat.


Unfreiwillig unlogisches Verhalten

Auch dieses findet man leider zuweilen in Büchern und ärgert sich darüber. Es entsteht unter anderem, wenn eine Idee nicht in all ihren Konsequenzen zu Ende gedacht wurde oder sich die Figuren so verhalten, wie man es gerne hätte, anstatt so, wie es für sie ’natürlich’ wäre. Dies kann auch passieren, wenn man das Verhalten der Figuren zu sehr auf die Haupthandlung ausrichtet.

Das möchte ich euch an einem weiteren Beispiel aus meinen Lieblingsbüchern von Frau Canavan näherbringen. In diesem geht es um die Freundschaft zwischen Akkarin und dem zweitwichtigsten Mann der Gilde, Lorlen.

Akkarin und Lorlen sind seit ihrem ersten Tag in der Gilde beste Freunde. Im Laufe der Bücher findet Lorlen durch Zufall heraus, dass sein Freund schwarze Magie praktiziert. Ab da richtet er sein komplettes Denken darauf aus, Akkarin aufzuhalten und sucht trotz seiner begrenzten Möglichkeiten nach Mitteln und Wegen, mit denen er dies erreichen kann. Den Rest der Zeit denkt er darüber nach, wie die mysteriösen Morde in der Stadt mit Akkarin in Verbindung stehen könnten. Doch an keiner einzigen Stelle tut Lorlen das, was jeder Mensch tun würde, wenn er nach einem halben Leben Freundschaft herausfindet, dass der beste Freund ein finsteres Geheimnis hat: Er denkt nicht einmal daran, dass Akkarin einen guten Grund für sein Tun haben könnte, zumal sein übriges Verhalten nicht von Machtgier oder Größenwahnsinn geprägt ist. Und später, als ihre Freundschaft darüber zerbricht, bedauert er kein bisschen, dass es so gekommen ist.

Darüber wird Lorlen zu einem ambivalenten Charakter, jedoch nicht auf eine Weise, die für den Leser durch innere Monologe oder Interaktionen mit anderen Figuren erklärbar würde. Sein gesamtes Verhalten wirkt, als würde es einzig dazu dienen, die Handlung voranzutreiben und ihm die Rolle zu geben, die Canavan für die Storyline braucht, ohne die Entwicklung dorthin schlüssig darzustellen. Es wird nicht erklärt, warum er nur noch schlecht von seinem besten Freund denkt, kaum dass er dessen Geheimnis erfährt. Es wird nicht erklärt, warum er Akkarin zwischendurch wieder freundlicher gesonnen scheint. Und es bleibt offen, wie er bei Akkarins Anhörung über dessen Geschichte denkt und welche Beweggründe er hat, die übrigen Magier von einer Hinrichtung abzubringen.

Dadurch entsteht der Eindruck, dass Lorlen einzig dazu dient, Akkarin als Antagonisten und später als das ’Opfer’ der Gilde darzustellen. Seine Charakterentwicklung bleibt dabei auf der Strecke und das Potential, welches das komplizierte Verhältnis der beiden Männer bietet, wird nicht einmal annähernd ausgeschöpft. Als Leser bleibt einem hier nur die Möglichkeit, sich die Gründe für Lorlens Verhalten zusammenzuphantasieren und sich damit zu erklären, dass er noch immer einen Rest Freundschaft für Akkarin empfindet und deswegen hin und hergerissen zwischen Freundschaft und Pflichterfüllung ist. Allerdings fehlt in den Büchern dazu jeglicher Anhaltspunkt.

Als Leser ärgert mich das, weil ich auf meine Fragen keine befriedigenden Antworten finde und die Umsetzung in der Geschichte wider dem menschlichen Verhalten ist. Als Autorin ärgert mich das vergeudete Potential. Und als Fanfiction-Autorin verzweifle ich darüber, weil ich Erklärungen finden muss, wo meine Geschichten auf den Canon treffen.

Daher achtet darauf, wenn ihr eure Figuren in eine bestimmte Richtung manövriert, dass ihre Charakterentwicklung darüber nicht auf der Strecke bleibt. Sind ihre zwischenmenschlichen Konflikte mit der Handlung verknüpft, so ignoriert diese nicht, sondern schöpft das Potential aus, das sie euch bieten, damit eure Charaktere nicht ungewollt unlogisch handeln.


Zusammenfassung

Es gibt Situationen, in denen Charaktere nur dem Schein nach unlogisch handeln, und von denen die Handlung letztendlich profitiert. Hier ist darauf zu achten, dass das Verhalten aus der Sicht des Charakters selbst Sinn ergibt. Stellt euch vor, wie ihr handeln würdet, wärt ihr in derselben Situation. Befindet sich euer Charakter in einer Situation, in der ihm der gesunde Menschenverstand abhandenkommen muss, versucht nicht ihn so handeln zu lassen, wie es logisch wäre. Mit dem einen oder anderen wohlplatzierten Hinweis im weiteren Verlauf der Geschichte könnt ihr eine Bindung zwischen Figur und Leser schaffen, die es dem Leser ermöglicht, sich in den Charakter hineinzuversetzen und sein Denken und Handeln nachzuvollziehen.
Doch es gibt auch Fälle, in denen Charaktere unlogisch handeln, ohne dass ihr Verhalten für den Leser einen Sinn ergibt und die einer mangelnden Ausarbeitung des Charakters zu verschulden sind.

Um eure Charaktere auf diese Weise facettenreicher zu gestalten, gebe ich euch folgenden Tipp: Wenn ihr ein Buch lest, wo euch das Verhalten eines Charakters seltsam vorkommt, versucht es zu ergründen. Schaut, ob sich Erklärungen im Text finden lassen, oder die Seltsamkeit aufgeklärt wird oder zu einem bestimmten Ergebnis führt. Daraus könnt ihr euch eine erste Anleitung für eure eigene Umsetzung machen. Fällt euch dabei auf, dass es keine logische Erklärung gibt, so findet die Schwachstellen und überlegt euch, was ihr anders gemacht hättet.

Scheut euch nicht, eure Charaktere hin und wieder unlogisch handeln zu lassen. Achtet dabei nur darauf, dass das unlogische Verhalten aus Sicht des Charakters auf seine Situation passt. Denn letztendlich ist unlogisches Verhalten menschlich.

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Zum Weiterlesen:




Sonea schreibt Fanfictions auf Fanfiktion.de und bloggt übers Schreiben und ihre Projekte auf Tales From Kyralia.



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